Das Buch "Functional Karate" - Grundlagen einer funktionierenden Kampfkunst - von Andree Kielholtz
Es gefällt mir im grossen Ganzen recht gut - 157 Seiten mit vielen erklärenden Fotos, in einer ordentlichen Qualität hergestellt, Halbkarton-Cover, Glanzseiten und vielen schwarz-weiss Abbildungen in guter Auflösung. Per E-mail konnte ich zudem ein pdf anfordern, wo zu gewissen Themen Links für ergänzende Videos aus YouTube angegeben werden. Eine hervorragende Idee, weil Bewegungsabläufe als Foto nicht immer zufriedenstellend darzustellen sind. Zudem ist Andree auf Facebook mit einem Account vertreten - auch dort stellt er oft zu Werbezwecken kleine Videos zur Verfügung.
Nun zu den Themen:
Stellungen: Zenkutsu Dachi, Nekoashi Dachi, Shiko Dachi/Kiba Dachi, Sanchin Dachi, Kosa Dachi wurden mit Anwendungen erklärt.
Sanchin Dachi ist für mein Verständnis nicht richtig umgesetzt, weil die als Sanduhr beschriebene Stellung nicht wegen dem Schutz des Unterleibes so ausgeführt wird, sondern unter Zuhilfenahme der Hüfte eine Spannung erzeugt wird, um Beine und Oberkörper auf kleiner Grundfläche (zum Beispiel früher auf einem Reisboot) zu verbinden.
Zudem wird mit dem Eindrehen der Füsse und der imaginären Vorstellung einer Verbindung zur Erdmitte eine starke Haftung mit dem Boden erzeugt (Vergl. dazu Qi-Gong).
Um - wie beschrieben - mit der Sanchin Stellung den Unterleib zu schützen, müsste extra die Position gewechselt werden, was in der Realität definitiv zu langsam ist. Wenn schon, dann wäre diesbezüglich Nekoashi Dachi geeigneter. Allerdings ist Andree mit seinem Trugschluss da (leider) nicht der einzige.
Kosa Dachi erklärt der Buchautor aufgrund der Tekki (Naifanchin) Kata um sich lateral hin- und herzubewegen. Aber auch das ist nicht gerade praxisgerecht - was, wenn während die Unterschenkel gekreuzt werden, genau in diesem Augenblick ein Angriff erfolgen würde? Zudem - als langjähriger ehemaliger Judoka ist diese Erklärung für mich ungenügend. Kosa Dachi lässt sich als Eindrehbewegung für einen Wurf hervorragend einsetzen, zudem mit dem anschliessend gestreckten Bein den Gegner gut zu Boden bringen (Tai Otoshi).
Tai Otoshi Tsuri Komi Goshi
Die Stellungs-Übergänge (Halbmondschritt) argumentiert er aus Sicht der Zentrallinie. Interessante Sichtweise, durchaus verständlich. Allerdings ist meines Erachtens die Begründung als Ausweichbewegung (1/2 Schulterbreite) zu klein, um einem Angriff wirksam zu entgehen. Bei uns im Shitoryu wird ein Ausweichen um 45 Grad bevorzugt, wobei da nicht nur der hintere Fuss, sondern auch der vordere Fuss etwas zur Seite gestellt wird. So kommt man aus der Schusslinie des Angriffes. Allerdings ist das bei einem Schwinger (Mawashi Zuki) nicht zielführend, weil man genau in den Angriff hineinläuft.
Das ist aber ein anderes Kapitel. Oft wird halt aus Sicht des Karateka argumentiert - ein schwerwiegender Fehler. Wir üben Abwehren gegen einen vermeintlichen Angriff eines Strassenkämpfers - nicht gegen einen anderen Karateka!
Zurück zum Thema:
Grundsätzlich sollte ein Stellungswechsel in Zeitlupe ausgeführt werden können, nur so hat man eine ständige Kontrolle über die Balance während der Bewegungsausführung. Kann man das nicht, ist man für eine kurze Zeit instabil, was der Gegner ausnutzen könnte (Möglichkeit für Ashi Barai (Fussfeger) > siehe Judo).
Ashi Barai
Uke Waza - die Blocktechniken
Hier kommt er wieder mit der Theorie der Zentrallinien. Allerdings kommt da erneut die veraltete Meinung auf, dass sich alles um die Achse der Wirbelsäule dreht, um Kraft zu generieren. Dies ist längst überholt und ebenfalls unlogisch. Die Drehbewegung nimmt als Startpunkt die Hüftseite des vorderen Fusses. So wird die Bewegung wie eine Türe ausgeführt, mit dem Scharnier auf einer Seite > vergleiche Speerwerfer oder Golf-Spieler.
Golfspieler Speerwerfer
Mit der Drehbewegung in der Mitte ginge sonst wertvolle Energie verloren, da die andere Hüftseite sich zwangsläufig vom Gegner wegdreht. Meister Kimura und Tani-Ha Shitoryu vertreten die Theorie der zuschlagenden Türe seit Jahrzehnten - und sie ist messbar stärker!
Bei den Abwehren erklärt Andree die Funktion der 2. Hand, welche die abwehrende Hand unterstützt. Auch hier ist dies eine veraltete Meinung, die er vertritt, weil mittlerweile allgemein bekannt ist, dass die ausholende Hand die eigentliche Abwehr darstellt und die vermeintliche Abwehr bereits der Konter bedeutet. Siehe dazu mein Beitrag "Gedanken zum Bunkai".
Im Beispiel Gedan Barai zieht er die ausholende Hand bis zum Ohr hoch, wodurch ein Anheben der Schulter resultiert, was natürlich aus Sicht des Einsatzes der grossen Brustmuskulatur unglücklich ist. Allerdings ist das bei einigen Kampfkunstschulen (z.B. bei gewissen Shotokan-Untergruppen) halt so üblich.
Die Erklärung der Abwehrtechniken beschränkt sich leider - ausser beim Shuto - auf Faustabwehren. Warum da keine Offenhandtechniken aufgeführt werden, obschon bei den Drills diese dann zur Anwendung gelangen, weiss wohl nur er. Zudem sind Offenhandabwehren schneller und in Kombination mit einer Ausweichbewegung ebenfalls hinreichend effektiv.
Abwehren gegen Tritte sind da eine andere Sache, hier ist die Faust aus Sicherheitsgründen zu empfehlen. Oder Shote Uke (Handballenabwehr) mit den Fingern vom abzuwehrenden Bein weggedreht.
Gedan Shote (Handballenabwehr)
Bei den Ausweichbewegungen unterscheidet Andre zwischen Vor- und Zurückgehen und 90° zu Seite. Das viel bessere Ausweichen um 45 Grad thematisiert er nicht, obschon es erhebliche Vorteile bringt (siehe oben).
Es folgen ein paar Flow-Drills wie wir sie auch praktizieren.
Zuki werden dann umschrieben. Allerdings fehlen mir Shote-Zuki und Nukite Zuki. Ebenfalls geht er nicht auf verschiedene Handformen ein > Hira-Ken, Ippon-Ken, Nakadaka Ippon-Ken, welche speziell in der Anwendung bei den Vitalpunkten zur Ausführung gelangen.
Das nächste Kapitel ist Empi (Ellenbogen) welches er gut umschrieben hat.
Bei den Beintechniken bezieht er sich auf Mae Geri und Yoko Geri, zwei gerade nach vorne gestossene Tritte. Speziell der Mae Geri ist ein natürlicher Kick und durchaus gut und relativ risikolos anwendbar. Als Variante hätte ich hier noch den Hiza Geri (Kniestoss) für die Selbstverteidigung im Nahkampf erwähnt.
Kniestoss in der Selbstverteidigung
Beim Kapitel Hikite erklärt er richtigerweise, dass die zurückziehende (eigentlich ziehende) Hand eine wichtige Funktion hat, welche über Jahre missverstanden wurde. Sie dient in erster Linie dem Heranziehen/Fixieren des gegnerischen Handgelenkes und nicht zum generieren von Kraft als Pendent zum Schlagarm.
Ein weiteres Kapitel wurde den Kata gewidmet - in der Ausführung, der Bedeutung und den Anwendungen in der Selbstverteidigung. Dies aber ohne detailliert auf einzelne Kata einzugehen.
Ein ausführliches Kapitel dient dem Equipment zur Kräftigungsübung verschiedener Körperteile. Auch Arbeiten am Wooden-Dummy (Holzpuppe zu Übungszwecken) wird gut erklärt, gefolgt von einigen Hebeltechniken.
Andree hat sich sehr bemüht mit seinem Buch - gewisse Differenzen sind zu unserem Shitoryu vorhanden - jeder soll sich aber seine eigenen Gedanken machen.
Wie heisst es: verschiedene Wege führen nach Rom...
Walter
Leseprobe vom Buch:
Leseprobe Functional Karate
Video über Hikite von Andree (aus YouTube) .